© Paul Marchesi
Die grossen Kleinen
Jürg Paul Müller
Die Kleinsäugetiere, die in der Parc Adula-Region leben, erobern selten die Frontseiten, trotzdem ist ihre Rolle fürs Ökosystem von vitaler Bedeutung. Parc Adula hat den bekannten Biologen Jürg Paul Müller um diesbezügliche Ausführungen gebeten.
„Nur eine Maus“ – kleine Säugetiere im Parc Adula.
Sie haben immer noch einen schlechten Ruf, die kleinen, flinken Säugetiere, die im Deutschen einfach mit dem Begriff „Maus“ bezeichnet und allgemein als Schädlinge angesehen werden. Bei der genaueren Beschäftigung mit den Mäusen erkennt man eine Vielzahl von Arten, welche an die verschiedensten Umweltbedingungen angepasst sind und im Haushalt der Natur eine wichtige Rolle spielen. Unter diesen Kleinsäugetieren gibt es zwei Gruppen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Insektenfresser mit den Spitzmäusen und den Maulwürfen sind ausgeprägte Fleischfresser, die sich vor allem von Wirbellosen ernähren, während die Langschwanzmäuse, Wühlmäuse und Schläfer zu den Nagetieren gehören, die vornehmlich pflanzliche Nahrung fressen. Beiden Gruppen sind etwa so nahe verwandt wie Rothirsche mit Füchsen.
Diese kleinen Säugetiere sind schwierig zu erforschen. Direktbeobachtungen der überwiegend nachtaktiven Tiere sind nicht möglich. Da bleibt nur der Fang mit Fallen. Heute werden meistens Lebendfallen eingesetzt. Die Kleinsäugerfauna im Grossraum des Parc Adula ist im Vergleich mit anderen Gebieten in der Schweiz relativ gut bekannt. Dies ist auf zahlreiche Fangaktionen durch Tessiner und Bündner Spezialisten in den letzten 25 Jahren zurückzuführen. Dabei wurden nicht weniger als 10 Arten von Insektenfressern und 15 Arten von Nagetieren nachgewiesen.
Sehr speziell sind die Verbreitungsmuster der einzelnen Arten. Es gibt viele Arten, die auf beiden Seiten des Alpenhauptkammes leben. Einige kommen nur im Norden vor, so zum Beispiel die Erdmaus, andere nur im Süden wie der Blindmaulwurf oder die Fatio-Kleinwühlmaus. Der Europäische Maulwurf besiedelt gerade noch die obersten Regionen der Bündner Südtäler und des Tessin, in den tieferen Lagen lebt die völlig blinde Talpa cieca. Bei den Waldspitzmäusen der Gattung Sorex gibt es sogenannte kryptische Arten. Diese kann man nur durch die DNA – Analysen, Untersuchungen der Chromosomen oder komplizierte Messungen am Schädel bestimmen. Äusserlich sehen die drei Arten, die in der Schweiz vorkommen zum Verwechseln ähnlich aus. Erst im Jahre 2002 wurde aufgrund detaillierter Studien eine neue Art, die Sorex antinorii oder Walliser Spitzmaus beschrieben, deren Hauptverbreitungsgebiet Oberitalien und nicht das Wallis ist. Bald erkannte man, dass sie am Splügen- und am Lukmanierpass den Alpenhauptkamm überschreitet. Kürzlich konnte ich sie sogar bei Sumvitg und Thusis nachweisen. Neue Studien zeigen die nahe genetische Verwandtschaft der Feldmäuse nördlich und südlich des Alpenhauptkammes. Dieser ist offenbar für viele kleine Säugetiere keine unüberbrückbare Grenze.
Die heutigen Verbreitungsmuster sind ein Resultat der Wiederbesiedlung der Alpen seit der Eiszeit. Während dieser konnten die Kleinsäuger in den Alpen nicht überleben. Sie verbrachten diese Phase in Refugien in Oberitalien, in Frankreich, Süddeutschland und im Osten und wanderten von dort wieder in die Alpen ein. Die Rückwanderung erfolgte relativ langsam. Dass die Kleinsäuger dabei den Alpenkamm in beiden Richtungen überquerten, erstaunt nicht. Tiziano Maddalena, Marzia Mattei – Rösli und ich konnten in einer Arbeit über die Kleinsäuger des Misox und des Calanca nachweisen, dass die Artenzahl bis in eine Höhe von 2 000 m ü. M. tendenziell zunimmt. Höhere Lagen wurden nicht untersucht. Auf der Alp Flix im Oberhalbstein (Graubünden) leben zwischen 2100 und 2500 Meter über Meer nicht weniger als 9 Arten, wie eine andere Studie zeigt. Grund dafür sind die vielfältigen Lebensräume im Bereich der Waldgrenze und der alpinen Stufe und möglichweise auch die Schneedecke, unter welcher die Insektenfresser und die kleinen Nagetiere vor der Witterung und den Feinden geschützt sind. Für diese Arten sind die hohen Gebirgspässe kein Hindernis sind und keine Verbreitungsgrenzen, sondern Teil ihres Lebensraumes.